Funktionale Analphabeten sind auf einem Lese- und Schreibniveau, wie Grundschüler in der ersten oder zweiten Klasse. Obwohl sie die Schule besucht haben, fällt es ihnen schwer, Verträge zu lesen und zu verstehen, E-Mails und SMS zu schreiben oder sich an fremden Orten zu orientieren. Manche von ihnen kennen zwar die Buchstaben, können aber nicht sinnentnehmend lesen. Andere verstehen leichte Texte, haben jedoch große Schwierigkeiten beim Schreiben.
Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten sprechen häufig nicht darüber, da sie Angst haben, bloßgestellt zu werden. Aus diesem Grund wollen Betroffene unerkannt bleiben. In unserer Gesellschaft ist funktionaler Analphabetismus immer noch ein Tabuthema.
Analphabetismus ist ein relativer Begriff
Ob eine Person als Analphabet gilt, hängt nicht nur von ihren individuellen Lese- und Schreibkenntnissen ab. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, welcher Grad an Schriftsprachbeherrschung innerhalb der konkreten Gesellschaft, in der diese Person lebt, erwartet wird. Wenn die individuellen Kenntnisse niedriger sind als die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnisse, liegt funktionaler Analphabetismus vor.
Der Begriff des funktionalen Analphabetismus trägt der Relation zwischen dem vorhandenen und dem notwendigen bzw. erwarteten Grad von Schriftsprachbeherrschung in seinem historisch-gesellschaftlichen Bezug Rechnung. Vor hundert Jahren waren geringere Kenntnisse erforderlich als heute. In einer westeuropäischen Gesellschaft werden weitergehende Kenntnisse erwartet als in sog. Entwicklungsländern, allerdings in Abhängigkeit von der sozialen Schicht, dem Beruf usw. Innerhalb der entwickelten Industriestaaten mit ihren hohen Anforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache müssen auch jene Personen als funktionale Analphabeten gelten, die über begrenzte Lese- und Schreibkenntnisse verfügen.
In der Literalitätsstudie leo. kommt die Universität Hamburg zu dem Ergebnis, dass 7,5 Millionen Menschen in Deutschland nicht so gut lesen und schreiben können, wie es erforderlich ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
14,5 % von den erwerbsfähigen Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland können zwar einzelne Sätze lesen und schreiben, jedoch keine zusammenhängende Texte verstehen oder selbst verfassen. Deswegen vermeiden die Betroffenen den Umgang mit Buchstaben und Wörtern meistens ganz. Zwei Millionen Betroffene scheitern der Studie zufolge schon an einzelnen Sätzen und 300.000 Menschen sogar schon an einzelnen Wörtern.
Die Studie fand heraus, dass Männer häufiger vom funktionalen Analphabetismus (60,3%) betroffen sind als Frauen (39,7% ).
Funktionaler Analphabetismus ist nicht primär ein Problem von Menschen mit Migrationshintergrund. 58% der funktionalen Analphabeten sind deutsche Muttersprachler und 42% haben zuerst eine andere Sprache gelernt.
Eine Zusammenfassung der Studienergebnisse finden Sie hier.
Ein Lokführer berichtete folgende Szene: "Analphabeten, ja, die gibt es auf dem Bahnhof. Eine junge Frau fragte mich: Fährt dieser Zug nach Wurzen? Das fragt die mich! Dabei stand es groß geschrieben am Zug und auf der Anzeigetafel des Bahnsteigs." So empört sich der Mann. "Ich hab ihr gesagt: Der Zug fährt nach Wurzen, da hält er aber nicht, ich fahre da durch." Er gibt der Frau eine falsche Information.
Ein Mann erläutert sein Vorgehen, wenn er mit dem Auto eine weite, ihm unbekannte Strecke fährt. Er geht die Fahrtroute mit seiner Frau durch. Diese sagt ihm die entscheidenden Markierungen. Er lernt sie auswendig. Der Mann braucht die Unterstützung seiner Frau und kann sich auf sein außergewöhnlich gutes Gedächtnis verlassen.
Ein Jugendlicher hat eine junge Frau kennen gelernt. Sie schickt ihm eine SMS: "Ich möchte dich heute Abend im Kino treffen. Melde dich!" Er kann die Nachricht nicht lesen. Soll er seinen Freund fragen? Wird dieser noch sein Freund sein, wenn er ihm von seinen Schwierigkeiten erzählt oder wird er dann zum Gespött der Gruppe?
Diese Beispiele verweisen auf unterschiedliche Bereiche, in denen die Betroffenen Schwierigkeiten haben und in der Gefahr stehen, stigmatisiert zu werden. Verständlicherweise führt dies bei ihnen zur Herausbildung von Strategien und Verhaltensweisen, die das vermeintliche Stigma verbergen.
In der Literatur wird davon gesprochen, dass funktionale Analphabeten vielfältige Vermeidungsstrategien anwenden. Sie versuchen ‚unauffällig’ zu bleiben, indem sie Situationen vermeiden, in denen Schriftsprachenkompetenz gefordert werden könnte. Dazu greifen sie – so wird berichtet – zu Täuschungen ("ich habe meine Brille vergessen ...") oder zum Delegieren schriftlicher Aufgaben an Personen ihres Vertrauens. Dies führt sehr häufig zu Abhängigkeiten und Co-Abhängigkeiten in den Beziehungen.
Somit erleben wir funktionale Analphabeten bei einem Balanceakt. Sie müssen sich durch manövrieren, ohne die dazu heutzutage unumgängliche Schriftsprachenkompetenz zu besitzen. Mitunter führt dies zu erstaunlichen Gedächtnisleistungen und zu einfallsreichen Bewältigungsstrategien. Dies erlangt häufig einen Grad, der höchste Beachtung verdient und immer auch als Ressource zu verstehen ist.
Quelle: Handreichung "Menschen, die nicht lesen und schreiben können." S. 19-20 von "PASS alpha – Pro Alphabetisierung. Wege in Sachsen".
Die Ursachen für unzureichende Lese- und Schreibfähigkeiten sind vielfältig. Es ist ein Zusammenspiel von individuellen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Faktoren.
In Wissensgesellschaften gibt es hohe Anforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache: Schule, Berufsschule, Ausbildung, private Mails und SMS. Die schriftsprachlichen Anforderungen steigen und es ist schwer, ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen den Alltag zu bewältigen.
Weiterführende Informationen finden Sie in dem Buch "Ihr Kreuz ist die Schrift.", welches Sie als PDF hier herunterladen können.